Freitag, 7. Mai 2010

Geralds Eindrücke vom Halfdome

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Der senkrechte Wahn - Halfdome Regular
6. Mai 2010 - 14:04 – Gerald


Half Dome Nordwestwand Regular, Freie Variante 5.12



Ich spüre ein leichtes Ziehen an der Hüfte, einen kurzen Widerstand und als ich meinen Fuß weitersetzen will macht es leise „flupp“. Irritiert schaue ich nach unten und sehe mein Seilende nach unten entschwinden. Scheinbar zeitlupenartig fällt das Seil die 600 Meter bis zum Einstieg. Ich erwarte ein Geräusch, ein Peitschen, ein Zischen oder Knallen, irgendetwas – doch da ist nur Stille. Stille und Dunkelheit. Irritiert wache ich auf. Wo um alles in der Welt bin ich?

Wir liegen zu Füßen der größten Halbkugel der Welt, am Einstieg der Nordwestwand des Half Dome im Yosemite Valley. Wie mit dem Messer durchtrennt steilt sich diese 600 Meter hohe Granitflucht über uns auf. Vor anderthalb Tagen waren wir nach einem 3-stündigen Steilaufstieg über teils gesicherte, teils ungesicherte Felsplatten mit schweren Rucksäcken hierher aufgestiegen, hatten uns einen entspannten Abend gemacht und schon mal die erste Seillänge ausgekundschaftet. In der Nacht darauf konnte ich kein Auge zumachen. Sinnvolle und sinnlose Sorgen hielten mich wach: Darf man sich überhaupt so nah an den Fuß einer so großen Wand legen? Würden herunterfallende Steinbrocken uns nicht zermalmen wie lästige Insekten? Ist die Wegführung zu finden? Würden wir die Kletterei in einem Tag schaffen? Wo geht’s wieder runter? Reicht das Wasser? Was, wenn wir irgendetwas nicht klettern können? Der Rückweg wäre uns abgeschnitten, da wir nur mit einem einfachen 80-Meter-Seil klettern werden und ein Rückzug per Abseilen wegen der zahlreichen Quergänge unmöglich wäre.

In einem Punkt haben wir Glück: nach dem vergangenen Wettereinbruch und der langsam einsetzenden Besserung sind wir die einzige Seilschaft in der “Regular North-West“, der einzigen frei kletterbaren Linie durch diese gigantische Felswand. „Linie“ ist auch schon fast übertrieben, denn um kletterbare Passagen zu finden kreuzt der Weg links und rechts umher, man muss zwischendurch sogar abwärts klettern, um die Verbindungen zwischen den weit auseinanderliegenden Rissen zu finden. So werden aus den 600 Höhenmetern ganz schnell über 800 Klettermeter.



Die Schwierigkeiten hingegen scheinen machbar: mit 5.12 ist die schwerste Länge angegeben, das entspricht hier in etwa 9- in unserer Skala. Die meisten Seilschaften lassen sich dafür Zeit und übernachten ein- bis zweimal in der Wand. Unser Plan ist wieder einmal: leicht-schnell-zu faul zum Haulen. Allerdings konnte ich noch nie so eine steile, lange Strecke bei Tageslicht klettern. Zwar gelangen uns die 800 Meter der „Modernen Zeiten“ an der Marmolada-Südwand in den Dolomiten innerhalb von 24 Stunden, doch hätte uns das Licht des Vollmondes nicht die letzten 6 Seillängen ausgeleuchtet, wäre eine erbärmlich kalte Biwaknacht ohne jegliche Ausrüstung die Konsequenz gewesen. Auf Mondlicht brauchen wir diesmal nicht zu hoffen, der war leider schon tagsüber am Himmel. Welch Verschwendung!

Das frühe Licht des Tages findet uns am ersten Standplatz. Voller Elan spurten wir nach oben, auch wenn die schlaflose Nacht nicht gerade zu meiner Fitness beigetragen hat. Aus diesem Grund überlasse ich Dirk, dem besseren Kletterer von uns beiden, schon nach wenigen Längen die alleinige Führung und steige nach. Nach einer Stunde folgt der erste Orientierungstest. Während die Originalroute in teils technischer Kletterei gerade weiter führt, wollen wir alles frei, also uns nur an den natürlichen Formen der Felsoberfläche festhaltend und aus eigener Kraft bewältigen. Die meisten Kletterer pfeifen hier auf strikte Ethik, denn bei der technischen Kletterei handelt es sich nur um sehr kurze Passagen, die eine ansonsten grandiose und klare Risslinie unterbrechen. Da meine Klettersozialisation im Elbsandstein stattfand, kommt technisches Klettern jedoch nicht in Frage. Also der Umweg! Und der besteht erst mal in einer Querung über strukturlosen, von Gletschern glattgeschliffenen Granit. Mitten in dieser Traverse steckt ein Bohrhaken zur Sicherung. Doch so sehr Dirk sich mit seinen 2 Metern Armspanne auch streckt, er kann ihn ums Verrecken nicht erreichen. Er setzt an, kommt zurück, setzt an, kehrt um. Ein Sturz direkt in die Standplatzsicherung wäre angesichts des damit verbundenen unangenehmen Pendlers keine schöne Sache. Irgendwann zieht er sich jedoch mit einem winzigen Seitengriff auf die Platte, hat den Bohrhaken nun direkt vor der Nase und kann ihn immer noch nicht klinken. Ein weiterer äußerst wackliger Zug, klick, endlich gesichert! Noch ein wackliger Zug und endlich sicherbares Rissgelände. Aber was für eine Breite. Irgendwo zwischen Faust und Schulter, man weiß gar nicht, wie man sich verklemmen soll. Mit viel Ächzen – immerhin ist es inzwischen gänzlich hell geworden – arbeitet sich Dirk hinauf. Dann bin ich dran. Als ich am Haken ankomme, packt mich das kalte Grausen – eine Propellerlasche an einem völlig verrosteten 8 Millimeter-Stift. Der hätte auch neu kaum einen Sturz gehalten. Vom neu sein ist er allerdings weit entfernt, der muss seit der Erstbegehung im Jahr 1957 an dieser Stelle stecken. Kein Wunder, dass Dirk hier weniger Wert auf das Sichern, als auf's Klettern gelegt hat. Manchmal muss man halt Prioritäten setzen!
Auch die folgende Seillänge ist sehr schwer, der Riss schmutzig und sehr selten geklettert. Wahrscheinlich sind wir die einzigen Idioten mit strikter Freikletterethik.

Irgendwann treffen wir wieder auf die Originallinie, auch wenn der Wegverlauf mit dem Topo so viel zu tun hat, wie ein Navi mit der Wirklichkeit. Dem Zeichner des Topos kann man jedenfalls keinen Vorwurf machen – ich möchte auch nicht die Aufgabe haben, 600 Meter auf eine DINA-5 Seite pressen zu müssen. Da bleiben für jede der 23 Seillängen ganze 0,9 Zentimeter! Für kurze Zeit folgen wir dem „ausgetretenen“ Pfad, bevor wir wieder ins Ungewisse müssen. Diesmal dürfen wir einen riesigen Bogen klettern, der laut Zettelvorlage eine Seillänge hinauf, eine nach rechts, eine hinunter und wieder eine nach rechts führen soll, bevor wir wieder zur Ursprungsroute zurückkommen. Ich steige vor und strecke nach 60 Metern die Waffen – unbeklettert wirkend, bröselig, kein Standplatz – ich hab kein Plan mehr, wo es weitergehen soll. Einen Abzweig kann ich beim besten Willen nicht finden. Rechts von mir ist die Wand glatt, wie ein Kinderpopo. Alle abzweigenden Risse enden im Nichts. Auf einigen von ihnen blockiert zudem Schnee und Eis das Fortkommen.




Friends und Schnee in der Wand

Immer wieder starren wir auf das kryptische Topo, aber die hier zuständigen 0,9 Zentimeter verraten uns nichts, rein gar nichts. Dirk übernimmt die Führung, steigt eine zusätzliche halbe Seillänge weiter auf, versucht eine Traverse, kommt zurück, setzt woanders an. Hier sei es, erklärt er überzeugt, holt mich nach und geht weiter. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, woraus er das in diesem Meer aus Granit schlussfolgert. Die Felsplatten sehen genau so brüchig, feucht, verschneit und unbeklettert aus, wie die darüber und darunter. Immerhin bin ich beruhigt, als er nach 20 Metern endlich mal eine Sicherung anbringt. Weiter quert er, immer weiter nach rechts.



Querung in's Ungewisse hoch über dem "Valley".

Tatsächlich, sein feines Gespür für Felsen behält recht: ein feiner Riss führt in leichtem Bogen steil abwärts. Das ist die gesuchte, einzige frei kletterbare Verbindung zur „Regular“ in dieser riesigen Wand. Und die hat es in sich. Bist Du schon mal einen 5.9er Riss im Yosemite geklettert, lieber Leser? Wenn ja, wirst Du mir zustimmen: da wird nicht tief gestapelt. Und nun das ganze im Abwärtsgang. Mit Grausen wird mir auf einmal klar, dass ich als Seilzweiter das Ding eigentlich „rückwärts vorsteigen“ müsste. Doch zum Glück gibt es ganz zu Anfang einen verrammelten Klemmkeil mit Karabiner darin, so dass ich es topropend absteigen kann. Leider wird in dem schrägen Ding mit jedem Meter nach unten die Pendelgefahr stärker. Wenn ich hier aus dem schmalen Fingerriss rausrutsche, finde ich mich 7 Meter weiter links wieder ohne die geringste Ahnung, wie ich mit dem Rucksack auf dem Rücken wieder zurück pendeln soll. Krampfhaft halte ich mich fest und kann mich erst entspannen, als ich den letzten Meter auf das breite Band hinabrutsche, auf dem Dirk schon wartet.



Die Sucherei hat uns viel Zeit gekostet und so bleibt trotz des wahnsinnig schönen Ausblick auf das Valley und dem bequemen Standplatz nur Zeit für einen hastigen halben Riegel und eine Schluck Wasser. Irgendwie krieg ich an Bigwalltagen nie so richtig was runter. Egal, weiter. Noch eine schwere Passage und wir sind wieder auf der „Regular“. Der Granit strahlt hier in makellosem Weiß, das von den winzigen schwarzglänzenden Biotiten darin nur noch betont wird. Beim Weitergehen passiere ich einen von einer anderen Seilschaft zurückgelassenen 4er Camalot, der zu tief in den Riss hineingewandert ist, um ihn wieder herauszubekommen. Das weckt den Sportsgeist in mir – oder sollte ich sagen: den sparsamen Ossi? Wie auch immer, etwa die Hälfte meiner Ausrüstung habe ich im Laufe meiner Kletterkarriere in den Gebieten dieser Welt zusammengefunden und so kann ich auch an diesem 100-Dollar-Prachtexemplar nicht einfach vorbeiklettern, ohne mein Glück nicht wenigstens versucht zu haben. Und tatsächlich ein sanfter Zug in der Mechanik mit dem Klemmkeilentferner verbunden mit leichtem Druck auf den Stempel und der blaue Friend ist meiner. Der Jäger- und Sammlerinstinkt ist befriedigt und die Laune steigt spürbar. Dazu lacht auf einmal die Sonne um die Ecke – Herz was willst Du mehr?

Moment mal – die Sonne? Ooops, das bedeutet in einer Nordwestwand, dass es schon reichlich spät ist. Und wir haben gerade mal die Hälfte geschafft. Bloß schnell weiter. Ab und zu können wir dank dem 80-Meter-Seil zwei Seillängen zu einer zusammenfassen und sparen dadurch Zeit für Standplatzbau, Materialübergabe und Sicherungsumbau. Eine lange Folge enger Kamine und breiter Risse, mit lächerlich niedrigen nominellen Schwierigkeiten folgt. Ein britischer Kletterer hatte uns davon berichtet: „Easy pitches, we climbed it free solo, who would fall on stuff like that?“ Wieder einmal stelle ich fest, dass unsere Routine in solchem Gelände erbärmlich ist. Quälend langsam kommen wir voran, Sichern können wir kaum, da die Risse zu breit für unsere Geräte sind und fallen dürfen wir keinesfalls, da ein Sturz frühestens 10 Meter tiefer auf einem Band enden würde. Eine Länge ist besonders skurril: der Kamin wird immer enger, am Ende sieht nicht so aus, als könne man noch hineinpassen. Man hat zwei Möglichkeiten: außen als breiten Kamin ohne jede Sicherungsmöglichkeit oder innen als engen, unbequemen Kamin aber mit der Option auf ein bis zwei Klemmkeile. Ich bin erleichtert, als Dirk nach innen geht, denn was nützt mir ein wagemutiger aber toter Seilpartner hier mitten in dieser riesigen Wand? Doch bald schon bereut er seinen Entschluss, denn die Schlotte wird so eng, dass er seinen 1,93 Meter – Körper kaum noch drehen kann.

Da – ein Wunder! Hinter ihm findet sich ein Felsfenster, welches von unten nicht zu sehen war und erst einmal Luft verschafft. Hier kann er sich drehen und eine Sicherung anbringen. Nun kann er beruhigt den Kamin nach außen stemmen und in einem letzten schweren Zug, kurz bevor sich die Spalte fast ganz schließt, hinaustreten und den Rest hangeln. „Aussischärn“ ruft er nach unten. Jetzt bin ich dran. Mit dem Rucksack auf dem Rücken gegen die eine Kaminseite lehnend geht die breite Passage überraschend bequem, auch wenn das Material natürlich arg leidet. Je enger es wird, umso mehr muss sich mein Körper wie ein Fragezeichen zusammenkrümmen. In dieser eng gefalteten Stellung fällt es mir sehr schwer, Druck mit den Füßen auf den glatten Granit auf der gegenüberliegenden Seite zu bekommen. Ich keuche wie eine Dampflok und diese 5.8er Seillänge fällt mir unheimlich schwer. Endlich – das Felsfenster. Aus dem engen, dunklen Bergleib kommend ist diese Quelle des Lichts und der Aussicht auf grüne Wälder, weiße Felsen und blauen kalifornischen Himmel eine Erlösung. Ich krabbele hinein und genieße den Weitblick Was für ein Glück haben wir Kletterer, das wir an solch abgefahrenen Orten sein dürfen! Angenehmer Nebeneffekt: mein Vorsteiger lässt eine Seilschlaufe hinab, zieht den Rucksack zu sich hinauf und ermöglicht mir somit die menschenwürdige Überwindung der Engstelle des Kamins. Danke, Dirk!

Als ich am Standplatz angekommen bin, zeigt er stumm auf meinen Einbindeknoten. Beziehungsweise auf die Stelle, wo ich das Seil festgeknotet hatte. Lose baumelt dort das Seilende. Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Ich bin gerade in 400 Metern Höhe an a…glattem Granit free solo geklettert. Bloß gut, dass ich das nicht gewusst habe… Es stellt sich raus, dass Dirk exakt das gleiche ein paar Längen zuvor auch schon passiert ist. Wir kletterten mit dem glättesten Seil, das auf dem Markt ist. Es hat uns bisher viel Freude bereitet, denn es zog sich immer hervorragend ab und hat sich nie irgendwo festgeklemmt, was uns mit anderen Seilen entnervend oft passiert ist. Aber hier, in der Enge das Kamins, haben sich die Knoten aufgerubbelt. Ich bin ja ein begeisterter Pit-Schubert-Leser und gebe hier mal öffentlich zu, dass ich mich im warmen Wohnzimmersessel fläzend gern an den haarsträubenden Unfallgeschichten, die in seinen „Sicherheit-und-Risiko-in-Fels-und-Eis“-Büchern zu lesen sind, ergötze. Von solchen „selbstlösenden“ Knoten habe ich aber bisher nichts gelesen. Egal – es ist schon spät, wir müssen weiter.

Wieder queren wir eine Länge nach rechts und sehen nun weit über uns in Gipfelfalllinie schon den sogenannten „Visor“, das ist ein weit ausladender Felsüberhang, auf dem sich Halfdombesteiger, egal ob Wanderer oder Kletterer, scheinbar über dem Tal schwebend gern ablichten lassen. Im T-Shirt kletternd kommen mir nun die Schneereste auf den Felsbändern reichlich skurril vor. Dafür wird die Kletterei jetzt ernst. Die berühmt-berüchtigten Zig Zags erwarten uns – abdrängende Hangelrisse im Grad 5.12.


Dirk Uhlig in den berühmten "Zig Zags" mit dem "Visor" ganz oben am Ende der Wand.

Dirk klettert wie ein junger Gott. Spielerisch überwindet er Passagen, in denen nur noch die letzten Fingerspitzen in die fast geschlossenen Risse passen. Die Schuhe so fest es geht gegen den glatten Granit gepresst, hangelt er wie eine Feder gespannt empor. Traumhafte Längen, gut absicherbar. In der letzten diffizilen Länge hängen jede Menge festgestürzter kleiner Keile, so dass man fast nichts mehr selbst legen muss. Es wird immer schwerer, selbst Dirk muss hier alles geben. Der Bewegungsfluss stockt, Tritte sind nur noch mit dem Mikroskop auszumachen. Ein verzweifelter Dynamo – die Hand rutscht ab, fängt sich einem der fixen Klemmkeilkabel. Laut fluchend schnappt Dirk noch einmal – ein Riesengriff direkt dahinter! Trotzdem Pech, der Onsight ist dahin. Es ist auch keine Zeit mehr, die Länge noch einmal zu punkten, der Himmel ist schon abendlich eingefärbt. Auch ich als Nachsteiger muss nun Abstriche im Stil machen, denn Zeit den Rucksack hochzuziehen, ist nun keine mehr. Also muss ich mit Rucksack so schnell wie möglich steigen, das heißt, bei den schwersten Passagen doch technisch klettern. Immerhin kann Dirk alles frei klettern, so dass es immerhin eine Team-Free-Begehung ist. Allerdings kümmern uns stilistische Petitessen im Moment überhaupt nicht, nach Abschluss der Hauptschwierigkeiten gilt unsere Sorge der heraufziehenden Dämmerung.

Unterhalb des „Visors“ queren wir wieder zwei Seillängen zurück nach links, bevor es dunkel ist. Niemanden wird es jetzt überraschen, dass wir zwar zwei Stirnlampen haben, aber nur eine davon leidlich funktioniert. Seufzend übergebe ich sie dem Vorsteiger, der damit in der Dunkelheit verschwindet. Schlecht gesicherte Reibungspassagen leiten den Ausstieg ein. Im Nachstieg stelle ich fest, dass als Betthupferl eine weite Querung auf mich wartet. Hier bin ich mit Rucksack in einer deutlich schlechteren Position, als mein Vorsteiger, denn der hat mit der Funzel wenigstens gesehen, wo er hintritt. Das kann ich ihm aber nicht mal vorwerfen, denn der ist schon eine Weile weder zu sehen noch zu hören und nur ein wildes Seilgezerre hat mir angedeutet, dass ich jetzt starten kann. Ich stelle fest, dass der Optik auf Reibung ohnehin zu viel Bedeutung zugemessen wird – es geht auch ohne Sicht. 15 Meter weiter haben wir wieder Sprechkontakt. Überstreckt stehe ich auf einem Band, greife nach oben und lande voll im Schnee. „Geh weiter rechts, da hab ich freigeräumt“ ruft mir Dirk von oben herab. Tatsächlich, ich kann das Manteln auf Schnee vermeiden. Ich stürme an ihm vorbei, greife mir die Stirnlampe und habe die Ehre, ein leichte Länge noch Vorsteigen zu dürfen, dann geht es nicht mehr höher. Im Dunkeln stehen wir jubelnd auf der Halbkugel, nach allen Seiten geht es leicht bergab.


Auf dem Gipfel des Half Domes

Die Sterne glitzern in der kalten Nacht, weit unten sieht man die Lichter des Valleys.
Viel Zeit nehmen wir uns nicht für die Gipfelrast, denn die Bergfahrt ist erst im Basislager zu Ende. Ich war zwar schon mal 1991 hier oben, doch da sind wir im Sommer bequem den leichten Snakedike hinauf und im Hellen wieder hinunter. Der Half Dome ist nämlich eigentlich ein richtiger Klettergipfel mit steilen Reibungswänden nach allen Seiten und nur eine durchaus anspruchsvolle Stiege ermöglicht Wanderern den Aufstieg. Diese besteht aus Metallstangen, die in tiefe Löcher gesteckt sind. An denen sind links und rechts jeweils Geländerseile befestigt sind und alle 6 Meter gibt es ein Querholz zum Draufstehen.

Aber wo geht diese drahtseilgesicherte Strecke hinab? Ist sie überhaupt noch da? Es ist schon Oktober – irgendwer hat uns erzählt, sie würde zum Ende der Touristensaison inklusive der Metallstangen abgebaut und erst im Folgejahr wieder installiert. Könnten wir dort mit unserem 80-Meter Seil zur Not abseilen?

Im Dunkeln fallen die Granitplatten nach allen Seiten gleich flach ab und werden steiler und steiler. Man weiß nicht, wie weit man gehen kann und wann man anfängt zu rutschen. Kreisförmig schwärmen wir aus, um den Beginn der Steiganlage zu finden. Zum Glück war Dirk erst wenige Jahre zuvor hier und hat eine vage Vorstellung, wo wir suchen müssen. Da, ein Ruf: „ich hab’s“. Schnell quere ich zu Dirk hinüber - ich selbst war meilenweit daneben.
Wir beginnen mit dem Abstieg und je tiefer wir kommen um so mehr bewundere ich die Wanderer, die hier ungesichert hoch und runter steigen. Wer einmal das Stahlkabel loslässt, findet sich einige hundert Meter tiefer wieder. Ich hab immerhin meinen Klettergurt und kann meine Selbstsicherung hin und wieder in das Kabel klinken. Auf Dauer schneiden die Stahlkabel allerdings unangenehm in die Hände. Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit am Wandfuß ankommen, sehen wir, wie das normalerweise vermieden wird. Hier liegt ein großer Haufen Handschuhe, von denen sich jeder Besteiger einfach ein Paar nimmt, und sie nach dem Abstieg wieder hinlegt.
Für uns ist der Tag aber noch nicht zu Ende. Wir müssen nun, immer nah an der Wand haltend, von der Nordschulter zum Wandfuß der Nordwestwand absteigen, wo Schlafsäcke und Kocher auf uns warten. Da vor uns nach dem Wettereinbruch niemand hier lang ist, bereitet es etwas Mühe, im Firnschnee den richtigen Weg zu finden, denn einen richtigen Pfad gibt es nicht. Als endlich die ersten Steinmänner auftauchen, fällt mir ein Stein vom Herzen – Schlafsack, ich komme!

Mitten in der Nacht treffen wir wieder am Einstieg ein – der Kreis hat sich geschlossen. Endlich was zu essen! Das hat sich Meister Petz auch gedacht und ist zu Besuch gekommen. Obwohl ich die Essenstüte in 10 Metern Höhe in die Wand gehängt hatte, hat das den pelzigen Genossen nicht von seiner Plündertour abgehalten. Alles liegt weit verstreut herum, wir versuchen zu retten, was zu retten ist. Einzeln klauben wir die Spaghettis aus den Büschen und zwischen Steinen hervor – und dann – Bingo! Die Bolognesesoßenbüchse ist unversehrt. Dem gepflegten Abendessen steht nichts mehr im Wege. Das haben wir uns verdient! Nach dem frugalen Mahl fallen wir in einen tiefen Schlaf und ich träume von mitten in der Wand aufgehenden Knoten.

Gerald Krug

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Wie immer auf der suche nach Felsen